Rahmenprogramm beim Deutschland-Cup 2013 in Wernigerode
Dreizehn Monate war nicht zu jung für Quedlinburg
- Geschrieben am 04. Oktober 2013 21:00 Uhr von Ralf Mulde
Es begann aufregend. Irgendwas is' ja immer. Der von den Organisatoren bestellte 22-sitzige Bus enthielt nur 21 Sitze. Mehrmaliges Zählen ergab dennoch nicht mehr Sitzfläche. Kreativ, wie unser D-Cup-Team eben ist, fand es schnell eine Lösung. Natürlich musste niemand zu Hause bleiben, denn der Hauptschiedsrichter höchstselbst ließ sich im Saal vertreten (von welchem Spieler???) und fuhr persönlich das 22. Ausflugsmitglied in seinem PKW nach Quedlinburg.
Am einfachsten zu transportieren gewesen wäre vielleicht die absolut jüngste Ausflüglerin, nämlich die erst 13-monatige Tochter eines unserer Schachfreunde. Die Kleine war natürlich in Begleitung ihrer Mutti und kann nun krähen, sie sei in Quedlinburg gewesen. Eine andere Teilnehmerin mit aufregend langer Mähne wurde gesichtet, als sie sich die Strähnen mit einem Kamm aus Elfenbein durchfuhr ... Teil des berühmten Domschatzes von Quedlinburg ist nämlich der "Heinrichskamm", der aus Elfenbein besteht und wohl ursprünglich beidseits mit zwei goldenen Springern ... naja, Pferden verziert war. Ob ausgerechnet dieser Kamm nun ebenso wie das "Servatiusreliquiar" auch einmal im Besitz "Karls des Kahlen" war, hat der ansonsten auf Kuriositäten erpichte Autor leider vergessen. Nunja, man ist eben nicht mehr der Jüngste.
Quedlinburg bekam eine überragende Bedeutung, als die "drei Ottos ... Ottonen" (kein Rehhagel dabei!) sie als jene Pfalz auserkoren, auf der fortan das wichtigste Fest der Christenheit nämlich ... genau, das Osterfest gefeiert werden solle. Und weil die Herrschaften eben nicht völlig unbedeutend waren, reiste zu dieser Party jährlich der europäische Jet-Set an, Könige, Herzöge, der Direktor vom HKK Hotel, was eben so Rang und Namen hat.
Kennzeichnend für die Bedeutung der Stadt ist nicht nur das stramme Bevölkerungswachstum mit damals schon 10.000 Einwohnern, denen es bald zu eng wurde, so dass die Neustadt gebaut wurde, sondern auch und erst recht die Roland-Statue. Sie versinnbildlicht das "kämpfende Christentum", war Roland doch einer wichtigsten Vorkämpfer von Karl dem Großen. Das Ding, in das der blies, war ein mächtig trötendes Signalrohr wie in der Südkurve und wurde Olifant genannt - nicht Ottifant. Erinnert doch ein wenig an die Trompeten von Jericho: "Einstürzende Neubauten".
Jedenfalls, im Wandel der Zeiten, ist eine Roland-Statue immer auch ein Symbol der Freiheit. Das passt zu unserem Turnier, das ja anlässlich der deutschen Vereinigung am Brocken gestartet wurde. Einige brauchten mehr davon; die bauten sich in Bremen 1404 eine in Höhe von 5,47 m; die in Quedlinburg konnten sich zurückhalten und begnügten sich (fast) mit normaler Körpergröße, nämlich 2,75 m. Anlass dafür, den Roland hier aufzustellen, war der Beitritt Quedlinburgs in die Hanse - dieser lose Bund bestand eben aus weit mehr als nur den Küstenstädten.
Der Zweite Weltkrieg hatte erheblich viele Jahre später zum Glück nur wenig von Quedlinburg zerstört, die Kulturbanausen der DDR aber umso mehr. Mittlerweile ist aber vieles wieder glanzvoll und vor allem historisch sinnvoll restauriert worden. Dazu gehören das Schloss bzw. das Schlossmuseum, das Geburtshaus des heute nur noch Spezialisten wirklich bekannten Dichters Friedrich G. "Kloppo" Klopstock, aber aus Seiten der Moderne eben auch eine Sammlung des großen Malers Lionel Feininger.
Weil die Stadt ursprünglich schon als eine Mischung aus Burg, Kloster und Repräsentanz gebaut worden war, ist es selbstverständlich, dass sie viele Sakralbauten (also Kirchen & Klöster) birgt und schützt und zwar je oller desto doller. Das alles haben die Teilnehmer natürlich schon vorher gewusst und widmeten sich deshalb ganz besonders den Fachwerkbauten der Stadt, die in ungewöhnlicher Zahl & Vielfalt zu finden sind. Das Fachwerkfachmannfachbuch spricht dann auch von "Quedlinburger Diamantschnitt" und "Quedlinburger Pyramide" - wir aber wenden uns hier ja an Leser, die inzwischen zu Connaisseurs wurden und müssen das nicht weiter ausführen.
Spaß beseite: Allein schon zum Beispiel das farbig gestaltete "Gildehaus" von 1612 lässt einen schon bewundernd fragen: Wie haben die das bloß gemacht? Das fragen sich bei ähnlicher Gelegenheit auch immer wieder heutige Baumeister; sogar bei weit später entstandenen Imponier-Gebäuden können wir heute nicht mehr sagen, wie sie gebaut worden sind - und können sie deshalb auch nicht ganz originalgetreu restaurieren.
Das ist ein Beispiel dafür, wie erworbenes Fachwissen über die Jahrhunderte eben auch wieder verloren gehen kann. Der Spieler am Brett, der sich gerade fragt, wie das Mattsetzen mit Springer und Läufer eigentlich noch funktioniert, hat jedenfalls keine Jahrhunderte gebraucht, um sein erworbenes Fachwissen im entscheidenden Moment wieder zu vergessen.